Sonntag, 22. August 2010

Fingerpointing in Germany

Ich war gerade in den USA, als das schreckliche Unglück auf der Loveparade in Duisburg passiert ist. Die erste Schlagzeile, die ich im "San Francisco Chronicle" las, war: "Fingerpointing in Germany". – "Fingerpointing": mit dem Finger auf andere zeigen. "Der hat Schuld und nicht ich." Selten haben wir das so extrem wie nach dem Unglück in Duisburg erlebt. Selten hat es in unserem Land eine solche Welle von Schuldzuweisungen und Selbstrechtfertigungen gegeben. Und dennoch ist Duisburg kein Einzelfall. Mir fallen Dutzende von Beispielen ein, in denen ähnlich schnell geurteilt und verurteilt wird.

Nichts gegen eine schnelle Aufklärung. Nichts gegen einen guten Investigativjournalismus. Und nichts gegen Konsequenzen und Strafen, wo sie denn gerechtfertigt sind. Aber dieses fast schon reflexartige "Von-sich-selbst-Ablenken-und-auf-andere-Zeigen" ohne einen Moment der Nachdenklichkeit, geschweige denn der Selbstbesinnung: das befremdet mich doch sehr.

Was macht es so schwer, zunächst mal auf sich selbst zu schauen und die Schuld nicht sofort beim anderen zu suchen? Ich glaube, es hat viel damit zu tun, dass wir uns mit Schuld und Versagen generell schwer tun. In unserer auf Erfolg und Leistung getrimmten Gesellschaft steht so etwas nicht auf dem Plan. Da hat man einfach nicht zu versagen. – Und wenn es dennoch jemand tut ...?

"Fingerpointing": das ist meines Erachtens die Folge einer massiven Verdrängung und Idealisierung. Entweder du hast eine weiße Weste und du hast dir niemals etwas zu Schulden kommen lassen. Oder du bist eben ein Versager. Für Zwischentöne ist da kein Platz. Da muss man mit dem Finger auf andere zeigen, sonst endet man eben selbst am Pranger.

Wie kommen wir aus diesem Teufelskreis heraus? – Vielleicht durch den Blick in ein Buch, das die Kultur unseres Landes einmal stark geprägt hat. Da ist von Schriftgelehrten und Phariäsern die Rede, die eine Frau zu Jesus bringen. Man hatte sie beim Ehebruch ertappt. "Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen. Nun, was sagst du?" (Joh 8,2-11)

Es wäre ein Leichtes für Jesus gewesen, mit seinem Finger auf die Frau zu zeigen. "Er aber bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde." Er unterbricht den Teufelskreis des Fingerpointings, indem er erst einmal Raum zum Nachdenken schafft. Die Schriftgelehrten und Pharisäer halten das kaum aus. Sie fragen weiter, insistieren. Da sagt er ihnen dieses großartige Wort: "Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie. Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde." Er zwingt sie, über sich selbst nachzudenken. Und ermöglicht ihnen dann, ohne Gesichtsverlust von dannen zu ziehen.

Jesus verharmlost das, was geschehen ist, nicht. Er spricht die Frau direkt darauf an. Aber er tut es erst, nachdem die Hetzjagd auf sie zu Ende ist. Das ist der entscheidende Punkt. Er lässt sich nicht hinreißen von der Wut der anderen, sondern schaut nüchtern und menschlich auf das, was war. Die Frau wird die Konsequenzen ihres Handelns zu tragen haben (wie übrigens auch der Mann, der ja auch dazu gehört). Aber ihre Existenz ist damit nicht vernichtet. "Geh, und sündige fortan nicht mehr.", gibt ihr Jesus mit auf den Weg.

Ein Jesus, der sich nicht vom Volkszorn mitreißen lässt, sondern nüchtern und menschlich anschaut, was war. Ein Jesus, der die Schuld beim Namen nennt, aber keine Existenz vernichtet. – Wäre das nicht ein Modell für uns?

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4 Kommentare:

  1. Sehr geehrter Herr Alter

    Christoph Schlingensief würde zum Thema Steinigung von Frauen eine Performance wie die vor der Wiener Staatsoper zum Thema: "Asylanten raus!" machen: Jeden Tag entscheidet das Volksgericht willkürlich darüber, welcher Asylant als nächstes aus dem Lande abgeschoben wird. Herr Schlingensief würde allen Voyeuren Steine in die Hände geben und sie auffordern, Frauen, die sie
    schon lange hinter vorgehaltener Hand steinigen oder steinigen lassen, direkt gegenüber zu treten und sie mit echten Steinen direkt und selber tot zu werfen.
    Sie kritisieren das Steinigen von Frauen und tun es doch in Ihrem Wort zum Sonntag selber. Denn das Schuldprinzip ist in Deutschland seit 34 Jahren abgeschafft. Ehen gelten seitdem als zerrüttet, da allzu viele Männer nach der Hochzeit noch immer auch mit ihren Müttern verheiratet sind - da hätten die Scheidungsrichter und Kirchenmänner auf die Dauer allzu viele Schwiegermütter schuldig und sündig zu sprechen...

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  2. Grüß Gott, sehr geehrter Herr Alter

    "Neue Modelle" sind längst erfunden - und zwar von Männern. Der Autor Prödl nennt sie in seinem neuen Buch "Geschäftsmodelle", weil für Männer das Fremdgehen und Sündigen zu deren "Geschäft" gehört, das am "ehesten" deren Bedürfnissen und der Realität entspricht: In Deutschland gehen laut investigativer Recherche von Prödl in einer Woche 10 Millionen Männer ins Bordell, zu ihren Geliebten oder zu Kirchen-Internatsschülern. Das sind 1,2 Millionen am Tag - aber nicht, um die Frauen im Bordell mit Steinen zu werfen... Deshalb wundert es sehr, dass diese Männer das dann mit anderen Frauen tun...
    Vor allem sind es doch gerade die Kirchenmänner, die mit ihren viel zu idealistischen Ansprüchen und Erwartungen an ihre Geistlichen und an die Menschen in den eigenen Reihen gescheitert sind.
    Auch in den Reihen der CDU ist das "Geschäftsmodell" sehr beliebt: Tausche Ehefrau gegen Sekretärin und Pressereferentin, dachten sich Helmut Kohl und Christian Wulff. Und Telekomchef Obermann und Maybritt Illner tauschten die Ehepartner aus, nachdem beide sich in ihrer Sendung kennen gelernt hatten...
    Wer die Ehe bricht, wird heutzutage vorbildlicher Bundespräsident. Und nachdem seine Ehe "gescheitert" ist, hat Christian Wulff zwar einer anderen Frau ein Eheversprechen gegeben - aber auch bei dieser Frau weiß er nicht im Voraus, ob er sich nicht auch mit ihr auseinander leben wird. Heuchler, Idealisten und Bigotte würden das dann Sünde und Schuld nennen - Realisten und wahrhaftige Menschen Ehrlichkeit.
    Wenn Jesus heute mal wieder auf die Erde käme, wäre er erstaunt, was heutzutage die Gesellschaft in seinem Namen akzeptiert und ausführt: tierquälerische Affenversuche, die die Tiere traumatisieren und für immer schädigen, Genmais als Nahrungsmittel, Hunderttausende Menschenopfer durch die Kirche, Schwulenehen, Kondombenutzung, Weltraumfahrt und immer mehr Menschen, für die Beziehungen nichts mit Schuld und Sünde zu tun haben. Keiner kann wissen, was Jesus wirklich dazu sagen würde. Aber alle tun so, als wüssten sie es.
    Seit es die Kirche gibt, machen doch die Kirchenfürsten ihre Gesetze selber, die in den vergangenen Jahrhunderten nichts mit Jesus zu tun hatten. Schuld und Sünde wurde immer nur von Männern definiert und Frauen angelastet, um sie zu dominieren, zu demütigen und willkürlich zu töten, wenn diese versuchten, für Menschlichkeit und Gerechtigkeit zu sorgen.
    Menschen wurden zwecks machtpolitischem Geschacher und Ländervermehrung schon als Kinder verlobt, wieder entlobt, wieder verlobt, verheiratet, von den Verheiratern geschieden, um sie dann wieder neu zu verheiraten.
    Jesus würde wohl darüber schmunzeln, dass es heutzutage viel mehr Bordelle gibt als Kirchen und möglicherweise sagen: Das hab ich ja damals vor 2000 Jahren schon gewusst... denn auch Jesus mochte keine moderigen Kirchen...

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  3. Lieber anonymer Schreiber 1 (16:42),
    da haben Sie mich aber gründlich missverstanden. Es ging in meinem Beitrag doch nicht darum, eine Aussage über den Ehebruch in unserer Zeit, geschweige denn über die Steinigung zu machen. Ich habe die nunmehr 2000 Jahre alte biblische Erzählung vielmehr deshalb zitiert, weil ich glaube, dass das Verhalten Jesu auch für uns heute modellhaft sein kann - und zwar in jedweder Situation, in der nach Schuld und Verantwortung gefragt wird.

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  4. ...in denen sich die Leute zu Volkstribunalen treffen...

    Der Vergleich zwischen zerrütteten Ehen und den fahrlässig in den Tod geleiteten arglosen 21 Menschen und Hunderten Schwerverletzten ist absurd und sehr pietätlos aus dem Munde eines Pfarrers - für gescheiterte Ehen gibt es schon lange kein Schuldprinzip der Eheparner mehr. In Duisburg haben sich jedoch viele Beteiligte in kürzester Zeit schuldig am Tod von Menschen gemacht, die nicht wussten, dass sie auf schreckliche Weise zu Tode gequetscht würden, weil die Organisatoren unverantwortlich gepfuscht haben.
    In Deutschland herrscht das typische Gesellschafts-Modell vor: Bei der Spezies der reichen und etablierten Herren ist kaum je eine Existenz wegen Schuld und Sünde zerstört worden, weil es immer genügend korrupte Lobbyisten, Anwälte und Richter gibt - hingegen jedoch die Existenzsicherung unzähliger couragierter Frauen.
    Bischöfe, Pfarrer, Priester, Pastoren bekommen auch nach Amtsmissbrauch weiter ihre Gehälter, Politiker und Manager ihre Tantiemen und Pensionen und auch die Verantwortlichen von Duisburg werden künftig nicht am Hungertuche nagen und der Bürgermeister wird weiterhin seine Tausende Euro Pension im Monat bekommen, also trotz 21 Toten keine Existenssorgen haben.
    Da es seit 1976 kein Ehe-Schuld-Modell mehr gibt, sollte auch keiner mehr zwecks Schuldzuweisung auf Frauen zeigen, die schon seit 2000 Jahren geschieden sind.
    Was in unserer Gesellschaft wirklich verwerflich und beklagenswert ist, ist vorsätzliche unterlassene Hilfeleistung, Körperverletzung, Freiheitsberaubung, Redeverbot und seelische Zerstörung gegenüber alten und hilflosen Menschen und Kindern und das Steinigen Einzelner durch skrupellose Angehörige und deren Gleichgesinnte, weil dieser einzelne Mensch dabei nicht schweigend zugesehen oder mitgemacht, sondern direkte Hilfe geleistet hat, obwohl der Hilfebedürftige zum Ableben bestimmt war.
    Wer durch das Leben neben solchen Menschen gesundheitlich geschädigt ist und zudem keinen Schadensersatz bekommt, dessen Existenzsicherung ist definitiv zerstört.
    Das "Fingerpointing" ist übrigens in den USA sehr verbreitet und dadurch ist nicht nur der Irak-Krieg entstanden. In den USA gibt es zudem noch die Todesstrafe, Guantanamo, Selbstjustiz, viele Amokläufer und viele Deutsche und deutsche Kirchenmänner übernehmen gerne unreflektiert amerikanische Verhaltensweisen mit katastrophalen Konsequenzen

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